Sonntag, 5. November 2006

Karl Heinz Bohrer : Pathetisches Sprechen ohne Scham

Noch einmal zum Fall Günter Grass: Viele Intellektuelle der Bundesrepublik entstammen nationalsozialistischen Elternhäusern oder waren gläubige Mitglieder von NS-Jugendorganisationen. Nicht diese Herkunft ist das Problem – wohl aber der moralisch-idealistische Jargon, der sich aus ihr erklärt

Als Günter Grass öffentlich machte, dass er als 17-Jähriger Soldat der Waffen-SS wurde, da lag es nahe, Entsetzen und Pathos zu inszenieren. Vor allem aber moralische Indignation darüber, dass der Erzrepräsentant der deutschen Schulderinnerung so spät, nach fast 50 Jahren antifaschistischer Rhetorik, den Enthusiasmus eben nicht des Flakhelfers, wie er bislang behauptet hatte, sondern des Waffen-SS-Soldaten für Hitler und Reich kundgab. Es zeigte sich, abgesehen von einigen trocken-sachlichen nationalen und internationalen Reaktionen, dass wir aus dem Zeitalter der Moralpolitik nur zögerlich auszutreten beginnen.

Nun war das Unerquickliche an Grass' Bekenntnis ohnehin nicht sein Inhalt, auch nicht das Skandalon seiner individuellen Person dabei, sondern das Repräsentative seines Falles, das – wenn man es einmal verstanden hatte – schon seit langem, wie soll man es nennen, auf die Nerven ging. Es ist der inzwischen bekannte Sachverhalt: Viele der nach dem Zweiten Weltkrieg als öffentliche Ankläger der deutschen Schuldvergangenheit bekannt gewordenen Intellektuellen entstammen – selbsteingestanden oder nicht – nationalsozialistischen beziehungsweise nationalreaktionären Elternhäusern oder aber waren als Jugendliche gläubige Mitglieder der politischen Jugendorganisationen des »Dritten Reiches« gewesen.

Solche Gläubigkeit war nicht selbstverständlich, sondern hatte oft etwas mit dem Milieu des Elternhauses zu tun. Man liste die Namen auf, und man wird sie wiedererkennen, ob diese Identität nun eine selbstverbreitete oder noch immer verschwiegene ist. Aber es ist nicht diese Herkunft an sich – obwohl nicht ohne Pikanterie –, die das Problem darstellt, sondern der aktuelle Jargon, der sich aus dieser Herkunft erklärt. Und darüber ist etwas zu sagen.

Verliebt in Adolf Hitler

Die eigentümliche Äquivalenz von Nazimilieu und bekennerischem Antifaschismus durchzog vor allem die intellektuelle und universitäre Elite, viele Achtundsechziger bis hin zum Baader-Meinhof-Terrorismus. Nun ist es ja eigentlich nur erfreulich, dass sich »Hitler’s children« so nachdrücklich von dieser Vergangenheit getrennt haben – ein Vorgang, der zum Erfolg der Bundesrepublik als Demokratie zweifellos beigetragen hat. Und dennoch: Es war schockierend zu entdecken, dass sich hinter diesen Autoritäten, sei es aus Universität, sei es aus Kirche, um nur die markanten Milieus zu nennen, fanatische Elternbiografien verbargen.

Aber es scheint irgendwie auch notwendig gewesen zu sein: Der überwältigende Anteil der deutschen Mittelschichten, nicht zuletzt der akademischen, in denen der Anteil des alten Bürgertums längst durch soziale Aufsteiger überboten wurde, war Hitler-begeistert.

Das Missverständnis der späteren Aufarbeitung – nicht zuletzt in westlichen Demokratien – lag ja darin, die Nazibewegten eher als Kriminelle zu sortieren, statt zu sehen, wie gut viele waren!

Gut in einem spezifischen Sinne: Es waren sozusagen reine Menschen, Menschen, die die Moralisten der Nation sein wollten, die zum Weltpurgatorium angetreten sich so Hals über Kopf in Hitler verliebten. Sie kamen aus deutschnationalen Heldenfamilien, die in Heidelberg und Marburg Germanistik, Geschichte und Philosophie studiert hatten, und nicht aus internationalen Händlerfamilien, die in Brüssel und Rotterdam Geld verdienten.

Wenn also nicht nur ein großer Anteil derjenigen, die gut schreiben und lesen konnten, Nazis wurden, sondern gerade die Mehrheit in den Geisteswissenschaften – darunter nicht nur soziale Streber, sondern vom »deutschen Geist« Überzeugte –, woher sollte schon nach dem Krieg der Widerruf kommen? Insofern taten die führenden Antifaschisten, das heißt die politisch engagierten Linksliberalen und Linken, nur etwas, was offenbar notwendig war, wenn es weitergehen sollte.

Aber es gibt einen Haken daran. Und den sollte man deswegen geradebiegen, da zum Zeitpunkt von Grass’ Geständnis diese Epoche, ihre Thematik und das partiell noch immer verschwiemelte, selbstmitleidige Sprechen darüber allmählich zu Ende geht: ein Sprechen von »Schuldigen« ohne Scham, ein Sprechen, das in seiner Pathetik und Aufdringlichkeit irgendwie an das frühere Sprechen erinnert. Wir lassen einmal die unappetitlichen diversen Hassadressen von Kindern ehemaliger Nazigrößen an ihre Eltern beiseite, obwohl die Hemmungslosigkeit, mit der sie ihr psychisches Elend ausbreiteten, durchaus mit dem zu tun hat, wovon hier zu reden ist.

Die Mea-culpa-Rhetorik

Da war zunächst einmal die peinlich gewordene Mea-culpa-Rhetorik selbst, mit der diese Leute quasi ex cathedra jedermann seit Jahrzehnten ins Haus fielen. Denn es gab und gibt ja die immerhin erwähnenswerte, wenn auch kleine Minderheit von Kindern regimefeindlicher Elternhäuser, die seit Jahrzehnten staunend mit ansah, dass Abkömmlinge desselben Milieus, das damals das große Wort führte, dies abermals taten.

Das brachte einen zu dem nicht sarkastisch gemeinten Verdacht, dass Leute mit Öffentlichkeitsdrang diesen unter jedem Regime zur Geltung bringen. Man kann zum Beispiel mit Sicherheit darauf setzen, dass viele der Wortführer der Gremienuniversitäten und der Medien die gleiche Mischung von Betulichkeit, Gehorsam und Reform, die sie so penetrant und einschüchternd verbreitet haben, auch damals verbreitet hätten. Der Idealismus der ehemaligen BDM-Führerin blieb wiedererkennbar bei solchen, die später im Grünen grasten. Es war der gleiche Phänotyp: voller Ressentiment, spießig und idealistisch. Idealistisch wie der in seiner Epoche berühmte Schauspieler Horst Caspar als geistesfanatischer Friedrich Schiller.

Im »mea culpa« steckt aber nicht allein die Absicht der dargetanen Zerknirschung, sondern mehr noch eine Art Erpressungsversuch, dass man endlich doch die Schuld vergeben möge. Ganz besonders die Opfer selbst, die Juden, sollten das tun. Hierbei kommt eine wahrscheinlich protestantischer Tradition entspringende intellektuelle Verdrehung – nennen wir es ruhig Perversion – ins Spiel, die wir schon vor Jahren einmal im Briefwechsel mit einem jungen Bekennenden, Enkel eines bekannten Nazigenerals, Sohn eines bekannten linken Wissenschaftsministers, versuchten auf den Punkt zu bringen: Der junge Mann schickte uns einen Text, in dem er Wiedergutmachung durch Zerknirschungsprozesse darlegte.

Ich weiß nicht, ob er unsere Ablehnung, es gebe keine Möglichkeit zu derlei Wiedergutmachung per intellektueller Reflexion, verstanden hat. Es hätte sie nur gegeben – so sagten wir ihm –, wenn die antinazistische Minderheit nach dem Kriege mit der nazistischen Mehrheit drastisch abgerechnet hätte. Das wäre die einzige, den Namen verdienende Wiedergutmachung gewesen. Wahrscheinlich hat er, Enkel und Sohn, die Zurückweisung seines frommen Wunsches als abgrundtiefe Dekadenz an politischem Bewusstsein, wie es damals hieß, vermerkt.

Nun lässt sich einer Gesellschaft nicht die tragische Ödipusmaske abverlangen, die schweigt und weiß, dass es keine Wiedergutmachung gibt. Aber es war schon ein Glück, dass jener griechische Heros Hausverbot bekam, sonst hätte er vielleicht doch noch die Stadt mit der Universalisierung seiner Schuld belästigt. Und damit kommen wir zum eigentlichen Punkt unserer Klarstellung.

Die frenetische Rhetorik, mit der das Schuldbekenntnis an die Öffentlichkeit trat, erinnert in ihrer Taktlosigkeit und Unzivilisiertheit, in ihrer undifferenzierten Emotionalität an die fundamentalistischen Glaubensbekenntnisse all der tausenden und abertausenden kleiner und großer Nazis. Auch die Naivität, eine Zivilgesellschaft auf radikalen moralischen Überzeugungen begründen zu wollen! Nicht von ungefähr erinnert sich der Antikapitalismus in solchen Kreisen an das Naziwort von der »Zinsknechtschaft«. Sie wollen noch immer in einer Volksgemeinschaft leben. Die Politikerfloskel von »den Menschen da draußen« kam ja so gut an, weil die Angesprochenen noch immer volksgemeinschaftlich fühlten, nicht individualistisch, nicht klassenmäßig.

Fataler Beigeschmack

Auch eine Reihe pazifistischer Rituale haben für den Unfrommen sofort einen fatalen Beigeschmack von dem, was man einmal »deutschgläubig« nannte. Dass es einen Preis des Deutschen Buchhandels gibt, der »Friedenspreis« heißt, scheint hierzulande noch keinem als fragwürdig aufgestoßen zu sein. Die deutsche Nachkriegsliteratur – und Günter Grass ist ihr Berühmtester – zog ihre künstlerischen Defizite aus einem aufdringlichen Moralismus. Das ist etwas grundsätzlich anderes, als was die amerikanische Historikerin Gertrud Himmelfarb kürzlich unter dem Begriff moral imagination am Beispiel von angelsächsischen Denkern wie Edmund Burke, John Stuart Mill und Lionel Trilling beschrieben hat. Oder Richard Rorty.

Was den verkappten, weitgehend unbewussten Zusammenhang mit dem totalitären Idealismus der Damaligen aber folgerichtig herstellt, war die ideologisch gesinnungstüchtige Brandmarkung derjenigen, die den Weißwäschern ironisch oder gar polemisch begegneten. Deren Weißwäscherei bestand darin, dass sie den anderen vorhielt, wieder weiße Wäsche tragen zu wollen. Diese könnten nur sie selbst tragen, eben weil sie wüssten, dass sie eigentlich keine mehr hätten.

Anders ausgedrückt: Die Pointe des Schuldbekenntnisses war, durch ihr Bekenntnis eine neue Unschuld beanspruchen zu dürfen. Der Universalisierungseffekt: Die Schuldigen sind die neuen Unschuldigen, die im Unterschied zu allen anderen »aus der Geschichte gelernt haben«, ja die anderen Nationalgeschichten gegenüber den Vorteil eines historisch neuen Paradigmas beanspruchen.

Damit ist das sich wiederholende politische Defizit dieser neuen Deutschgläubigen genannt. Ihre »Schuld« eröffnete ihnen nämlich den Blick in eine Zeit der Schuldlosigkeit, das heißt eine Zeit, in der Politik nur als Schuldpolitik denkbar wurde. Die Konsequenz: Alles, was als schuldverursachend ansehbar war, wurde aus dem politischen Katechismus gestrichen. Angefangen mit der Ächtung des Nationalstaats und der Ächtung der Nationalität, der Ächtung des Patriotismus über die Ächtung weltpolitischen Engagements bis hin zur selbstverständlichen Ächtung der Möglichkeit des Krieges als Mittel der Politik.

Der Fanatismus, mit dem das geschah und zum Teil noch immer geschieht, erinnert an das weltlose Zelotentum der Nazis, ist auch psychologisch ihr Äquivalent. Ja, die Begründung der deutschen Geschichte auf dem Holocaust liest sich wie die perverse Inversion der Tat selbst, ist nur als Frenetismus einer Schuldkultur zu verstehen. Als ob kriminell-pathologischer Wahn durch neuen Wahn exorziert werden könnte!

Dass diese Moralisierung der Politik praktisch auf das Prinzip politischer Verantwortungslosigkeit hinauslief, sich als Tugend vor der Feigheit drapierte und theoretisch die fatale nationalsozialistische Hysterie variierte, ein und für alle Mal die Welt vom Übel zu befreien, ist diesen Kindern Hitlers bis heute nicht aufgegangen, obwohl es ihnen von wenigen erstaunten deutschen und vielen westeuropäischen Beobachtern ab und zu diskret gesagt worden ist.

Es bleibt eine Frage unbeantwortet: Warum eigentlich wurde der Ton der Schulderinnerung von diesen Kindern der Ehemaligen und nicht von den Kindern der Regimeabgeneigten so ausschließlich angegeben? Warum haben diese sich nicht energischer in Szene gesetzt? Denn selbst wenn nur sie übrig geblieben wären, nur sie mehrheitlich das allerletzte Inferno des »Dritten Reiches« überlebt hätten oder wenn sie den Ehemaligen wirklich den Prozess gemacht hätten, dann wäre es an ihnen gewesen, die Verbrechen ihrer Nation öffentlich zu verantworten.

Man denkt an Ralf Dahrendorf und Joachim Fest, vor allem aber an Sebastian Haffner. Die post mortem bekannt gewordene Erinnerungsschrift an die Zwischenkriegszeit, die Zeit des langsamen Aufkommens der Nazis, ist eine einzigartige Darstellung der präfaschistischen Mentalitäten in der deutschen Mittelklasse, gesehen aus dem Blickwinkel eines Nichtdazugehörenden. Aber von demselben Haffner sind nach dem Kriege keine einschlägigen »antifaschistischen« Äußerungen an die Adresse seiner Mitbürger bekannt geworden. Es fällt einem auch W. G. Sebald ein. Wie Haffner verließ er Deutschland, allerdings nach der Naziherrschaft, und er machte sie zu seinem literarischen Thema, aber eben ohne jede mit der literarischen Linken vergleichbare aktuelle Polemik. In beiden Fällen war wohl auch eine existentielle Trauer im Spiel, von der die Rhetorik der politischen Moralisten charakteristischerweise nichts hatte.

Regimegegner schweigen

Haffner, Sebald und einigen wenigen anderen ist eine gewisse Art, leise und wie für sich selbst zu sprechen, eigen. Sie waren immer Außenseiter, partiell im Ausland lebend. Es gab auch Angehörige von unmittelbar in den 20. Juli Verwickelten, aus deren Kreis niemals mehr ein Wort zu vernehmen war. Kein Wunder, da die Familien der hingerichteten Verschwörer auch lange Zeit nach dem Kriege sozial anonym blieben und die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung keinerlei Beziehung zum 20. Juli unterhielt. So ergibt sich immer stärker der Eindruck, dass regimeabgeneigte Kreise sich von der intellektuellen Diskussion nach dem Kriege entfernt hielten.

Vor allem aber: Intellektuelle wie die Genannten waren ohne jenen Selbsthass, in dem die Tonangebenden so lange bewusst oder unbewusst gebadet haben, was ihnen zweifellos eine emotionale, eine kreative Durchschlagskraft gab. Sie waren die Guten, die für die Vielen sprachen. Nicht das altbürgerliche Erbteil, sei es liberal, sei es religiös.

Und damit ist unsere Frage fast beantwortet: Die Nazis hatten der altbürgerlichen ebenso wie der aristokratischen Kultur in Deutschland den Rest gegeben. Jedenfalls waren die Bürger nicht mehr in der Lage, sich während der zwölf Jahre bemerkbar zu machen. Nach den zwölf Jahren war es – trotz des Beginns mit Adenauer – offenbar endgültig zu spät für sie.



Der Autor ist Mitherausgeber der Zeitschrift Merkur. - Abdruck aus Merkur, Heft 691, November 2006. www.online-merkur.de · taz Nr. 8117 vom 4.11.2006, Seite 22, 476 · © Contrapress media GmbH · Vervielfältigung nur mit Genehmigung des taz-Verlags


Dienstag, 31. Oktober 2006

Franz Kafka : Ein Landarzt

Ich war in großer Verlegenheit: eine dringende Reise stand mir bevor; ein Schwerkranker wartete auf mich in einem zehn Meilen entfernten Dorfe; starkes Schneegestöber füllte den weiten Raum zwischen mir und ihm; einen Wagen hatte ich, leicht, großräderig, ganz wie er für unsere Landstraßen taugt; in den Pelz gepackt, die Instrumententasche in der Hand, stand ich reisefertig schon auf dem Hofe; aber das Pferd fehlte, das Pferd. Mein eigenes Pferd war in der letzten Nacht, infolge der Überanstrengung in diesem eisigen Winter, verendet; mein Dienstmädchen lief jetzt im Dorf umher, um ein Pferd geliehen zu bekommen; aber es war aussichtslos, ich wußte es, und immer mehr vom Schnee überhäuft, immer unbeweglicher werdend, stand ich zwecklos da. Am Tor erschien das Mädchen, allein, schwenkte die Laterne; natürlich, wer leiht jetzt sein Pferd her zu solcher Fahrt? Ich durchmaß noch einmal den Hof; ich fand keine Möglichkeit; zerstreut, gequält stieß ich mit dem Fuß an die brüchige Tür des schon seit Jahren unbenützten Schweinestalles. Sie öffnete sich und klappte in den Angeln auf und zu. Wärme und Geruch wie von Pferden kam hervor. Eine trübe Stallaterne schwankte drin an einem Seil. Ein Mann, zusammengekauert in dem niedrigen Verschlag, zeigte sein offenes blauäugiges Gesicht. »Soll ich anspannen?« fragte er, auf allen vieren hervorkriechend. Ich wußte nichts zu sagen und beugte mich nur, um zu sehen, was es noch in dem Stalle gab. Das Dienstmädchen stand neben mir. »Man weiß nicht, was für Dinge man im eigenen Hause vorrätig hat«, sagte es, und wir beide lachten. »Holla, Bruder, holla, Schwester!« rief der Pferdeknecht, und zwei Pferde, mächtige flankenstarke Tiere, schoben sich hintereinander, die Beine eng am Leib, die wohlgeformten Köpfe wie Kamele senkend, nur durch die Kraft der Wendungen ihres Rumpfes aus dem Türloch, das sie restlos ausfüllten. Aber gleich standen sie aufrecht, hochbeinig, mit dicht ausdampfendem Körper. »Hilf ihm«, sagte ich, und das willige Mädchen eilte, dem Knecht das Geschirr des Wagens zu reichen. Doch kaum war es bei ihm, umfaßt es der Knecht und schlägt sein Gesicht an ihres. Es schreit auf und flüchtet sich zu mir; rot eingedrückt sind zwei Zahnreihen in des Mädchens Wange. »Du Vieh«, schreie ich wütend, »willst du die Peitsche?«, besinne mich aber gleich, daß es ein Fremder ist, daß ich nicht weiß, woher er kommt, und daß er mir freiwillig aushilft, wo alle andern versagen. Als wisse er von meinen Gedanken, nimmt er meine Drohung nicht übel, sondern wendet sich nur einmal, immer mit den Pferden beschäftigt, nach mir um. »Steigt ein«, sagt er dann, und tatsächlich: alles ist bereit. Mit so schönem Gespann, das merke ich, bin ich noch nie gefahren, und ich steige fröhlich ein. »Kutschieren werde aber ich, du kennst nicht den Weg«, sage ich. »Gewiß«, sagt er, »ich fahre gar nicht mit, ich bleibe bei Rosa.« »Nein«, schreit Rosa und läuft im richtigen Vorgefühl der Unabwendbarkeit ihres Schicksals ins Haus; ich höre die Türkette klirren, die sie vorlegt; ich höre das Schloß einspringen; ich sehe, wie sie überdies im Flur und weiterjagend durch die Zimmer alle Lichter verlöscht, um sich unauffindbar zu machen. »Du fährst mit«, sage ich zu dem Knecht, »oder ich verzichte auf die Fahrt, so dringend sie auch ist. Es fällt mir nicht ein, dir für die Fahrt das Mädchen als Kaufpreis hinzugeben.« »Munter!« sagt er; klatscht in die Hände; der Wagen wird fortgerissen, wie Holz in die Strömung; noch höre ich, wie die Tür meines Hauses unter dem Ansturm des Knechts birst und splittert, dann sind mir Augen und Ohren von einem zu allen Sinnen gleichmäßig dringenden Sausen erfüllt. Aber auch das nur einen Augenblick, denn, als öffne sich unmittelbar vor meinem Hoftor der Hof meines Kranken, bin ich schon dort; ruhig stehen die Pferde; der Schneefall hat aufgehört; Mondlicht ringsum; die Eltern des Kranken eilen aus dem Haus; seine Schwester hinter ihnen; man hebt mich fast aus dem Wagen; den verwirrten Reden entnehme ich nichts; im Krankenzimmer ist die Luft kaum atembar; der vernachlässigte Herdofen raucht; ich werde das Fenster aufstoßen; zuerst aber will ich den Kranken sehen. Mager, ohne Fieber, nicht kalt, nicht warm, mit leeren Augen, ohne Hemd hebt sich der junge unter dem Federbett, hängt sich an meinen Hals, flüstert mir ins Ohr: »Doktor, laß mich sterben. «Ich sehe mich um; niemand hat es gehört; die Eltern stehen stumm vorgebeugt und erwarten mein Urteil; die Schwester hat einen Stuhl für meine Handtasche gebracht. Ich öffne die Tasche und suche unter meinen Instrumenten; der Junge tastet immerfort aus dem Bett nach mir hin, um mich an seine Bitte zu erinnern; ich fasse eine Pinzette, prüfe sie im Kerzenlicht und lege sie wieder hin. »Ja«, denke ich lästernd, »in solchen Fällen helfen die Götter, schicken das fehlende Pferd, fügen der Eile wegen noch ein zweites hinzu, spenden zum Übermaß noch den Pferdeknecht.« Jetzt erst fällt mir wieder Rosa ein; was tue ich, wie rette ich sie, wie ziehe ich sie unter diesem Pferdeknecht hervor, zehn Meilen von ihr entfernt, unbeherrschbare Pferde vor meinem Wagen? Diese Pferde, die jetzt die Riemen irgendwie gelockert haben; die Fenster, ich weiß nicht wie, von außen aufstoßen? jedes durch ein Fenster den Kopf stecken und, unbeirrt durch den Aufschrei der Familie, den Kranken betrachten. »Ich fahre gleich wieder zurück«, denke ich, als forderten mich die Pferde zur Reise auf, aber ich dulde es, daß die Schwester, die mich durch die Hitze betäubt glaubt, den Pelz mir abnimmt. Ein Glas Rum wird mir bereitgestellt, der Alte klopft mir auf die Schulter, die Hingabe seines Schatzes rechtfertigt diese Vertraulichkeit. Ich schüttle den Kopf; in dem engen Denkkreis des Alten würde mir übel; nur aus diesem Grunde lehne ich es ab zu trinken. Die Mutter steht am Bett und lockt mich hin; ich folge und lege, während ein Pferd laut zur Zimmerdecke wiehert, den Kopf an die Brust des Jungen, der unter meinem nassen Bart erschauert. Es bestätigt sich, was ich weiß: der Junge ist gesund, ein wenig schlecht durchblutet, von der sorgenden Mutter mit Kaffee durchtränkt, aber gesund und am besten mit einem Stoß aus dem Bett zu treiben. Ich bin kein Weltverbesserer und lasse ihn liegen. Ich bin vom Bezirk angestellt und tue meine Pflicht bis zum Rand, bis dorthin, wo es fast zu viel wird. Schlecht bezahlt, bin ich doch freigebig und hilfsbereit gegenüber den Armen. Noch für Rosa muß ich sorgen, dann mag der Junge recht haben und auch ich will sterben. Was tue ich hier in diesem endlosen Winter! Mein Pferd ist verendet, und da ist niemand im Dorf, der mir seines leiht. Aus dem Schweinestall muß ich mein Gespann ziehen; wären es nicht zufällig Pferde, müßte ich mit Säuen fahren. So ist es. Und ich nicke der Familie zu. Sie wissen nichts davon, und wenn sie es wüßten, würden sie es nicht glauben. Rezepte schreiben ist leicht, aber im übrigen sich mit den Leuten verständigen, ist schwer. Nun, hier wäre also mein Besuch zu Ende, man hat mich wieder einmal unnötig bemüht, daran bin ich gewöhnt, mit Hilfe meiner Nachtglocke martert mich der ganze Bezirk, aber daß ich diesmal auch noch Rosa hingeben mußte, dieses schöne Mädchen, das jahrelang, von mir kaum beachtet, in meinem Hause lebte - dieses Opfer ist zu groß, und ich muß es mir mit Spitzfindigkeiten aushilfsweise in meinem Kopf irgendwie zurechtlegen, um nicht auf diese Familie loszufahren, die mir ja beim besten Willen Rosa nicht zurückgeben kann. Als ich aber meine Handtasche schließe und nach meinem Pelz winke, die Familie beisammensteht, der Vater schnuppernd über dem Rumglas in seiner Hand, die Mutter, von mir wahrscheinlich enttäuscht ja, was erwartet denn das Volk? - tränenvoll in die Lippen beißend und die Schwester ein schwer blutiges Handtuch schwenkend, bin ich irgendwie bereit, unter Umständen zuzugeben, daß der Junge doch vielleicht krank ist. Ich gehe zu ihm, er lächelt mir entgegen, als brächte ich ihm etwa die allerstärkste Suppe – ach, jetzt wiehern beide Pferde; der Lärm soll wohl, höhern Orts angeordnet, die Untersuchung erleichtern - und nun finde ich: ja, der Junge ist krank. In seiner rechten Seite, in der Hüftengegend hat sich eine handtellergroße Wunde aufgetan. Rosa, in vielen Schattierungen, dunkel in der Tiefe, hellwerdend zu den Rändern, zartkörnig, mit ungleichmäßig sich aufsammelndem Blut, offen wie ein Bergwerk obertags. So aus der Entfernung. In der Nähe zeigt sich noch eine Erschwerung. Wer kann das ansehen ohne leise zu pfeifen? Würmer, an Stärke und Länge meinem kleinen Finger gleich, rosig aus eigenem und außerdem blutbespritzt, winden sich, im Innern der Wunde festgehalten, mit weißen Köpfchen, mit vielen Beinchen ans Licht. Armer Junge, dir ist nicht zu helfen. Ich habe deine große Wunde aufgefunden; an dieser Blume in deiner Seite gehst du zugrunde. Die Familie ist glücklich, sie sieht mich in Tätigkeit; die Schwester sagt’s der Mutter, die Mutter dem Vater, der Vater einigen Gästen, die auf den Fußspitzen, mit ausgestreckten Armen balancierend, durch den Mondschein der offenen Tür hereinkommen. »Wirst du mich retten?« flüstert schluchzend der Junge, ganz geblendet durch das Leben in seiner Wunde. So sind die Leute in meiner Gegend. Immer das Unmögliche vom Arzt verlangen. Den alten Glauben haben sie verloren; der Pfarrer sitzt zu Hause und zerzupft die Meßgewänder, eines nach dem andern; aber der Arzt soll alles leisten mit seiner zarten chirurgischen Hand. Nun, wie es beliebt: ich habe mich nicht angeboten; verbraucht ihr mich zu heiligen Zwecken, lasse ich auch das mit mir geschehen; was will ich Besseres, alter Landarzt, meines Dienstmädchens beraubt! Und sie kommen, die Familie und die Dorfältesten, und entkleiden mich; ein Schulchor mit dem Lehrer an der Spitze steht vor dem Haus und singt eine äußerst einfache Melodie auf den Text:


Entkleidet ihn, dann wird er heilen,
Und heilt er nicht, so tötet ihn!
’s ist nur ein Arzt, ’s ist nur ein Arzt.


Dann bin ich entkleidet und sehe, die Finger im Barte, mit geneigtem Kopf die Leute ruhig an. Ich bin durchaus gefaßt und allen überlegen und bleibe es auch, trotzdem es mir nichts hilft, denn jetzt nehmen sie mich beim Kopf und bei den Füßen und tragen mich ins Bett. Zur Mauer, an die Seite der Wunde legen sie mich. Dann gehen alle aus der Stube; die Tür wird zugemacht; der Gesang verstummt; Wolken treten vor den Mond; warm liegt das Bettzeug um mich, schattenhaft schwanken die Pferdeköpfe in den Fensterlöchern. »Weißt du«, höre ich, mir ins Ohr gesagt, »mein Vertrauen zu dir ist sehr gering. Du bist ja auch nur irgendwo abgeschüttelt, kommst nicht auf eigenen Füßen. Statt zu helfen, engst du mir mein Sterbebett ein. Am liebsten kratzte ich dir die Augen aus.« »Richtig«, sage ich, »es ist eine Schmach. Nun bin ich aber Arzt. Was soll ich tun? Glaube mir, es wird auch mir nicht leicht.« »Mit dieser Entschuldigung soll ich mich begnügen? Ach, ich muß wohl. Immer muß ich mich begnügen. Mit einer schönen Wunde kam ich auf die Welt; das war meine ganze Ausstattung.« »Junger Freund«, sage ich, »dein Fehler ist: du hast keinen Überblick. Ich, der ich schon in allen Krankenstuben, weit und breit, gewesen bin, sage dir: deine Wunde ist so übel nicht. Im spitzen Winkel mit zwei Hieben der Hacke geschaffen. Viele bieten ihre Seite an und hören kaum die Hacke im Forst, geschweige denn, daß sie ihnen näher kommt.« »Ist es wirklich so oder täuschest du mich im Fieber?« »Es ist wirklich so, nimm das Ehrenwort eines Amtsarztes mit hinüber.« Und er nahm’s und wurde still. Aber jetzt war es Zeit, an meine Rettung zu denken. Noch standen treu die Pferde an ihren Plätzen. Kleider, Pelz und Tasche waren schnell zusammengerafft; mit dem Ankleiden wollte ich mich nicht aufhalten; beeilten sich die Pferde wie auf der Herfahrt, sprang ich ja gewissermaßen aus diesem Bett in meines. Gehorsam zog sich ein Pferd vom Fenster zurück; ich warf den Ballen in den Wagen; der Pelz flog zu weit, nur mit einem.Ärmel hielt er sich an einem Haken fest. Gut genug. Ich schwang mich aufs Pferd. Die Riemen lose schleifend, ein Pferd kaum mit dem andern verbunden, der Wagen irrend hinterher, den Pelz als letzter im Schnee. »Munter!« sagte ich, aber munter ging's nicht; langsam wie alte Männer zogen wir durch die Schneewüste; lange klang hinter uns der neue, aber irrtümliche Gesang der Kinder:


Freuet euch, ihr Patienten,
Der Arzt ist euch ins Bett gelegt!


Niemals komme ich so nach Hause; meine blühende Praxis ist verloren; ein Nachfolger bestiehlt mich, aber ohne Nutzen, denn er kann mich nicht ersetzen; in meinem Hause wütet der ekle Pferdeknecht; Rosa ist sein Opfer; ich will es nicht ausdenken. Nackt, dem Froste dieses unglückseligsten Zeitalters ausgesetzt, mit irdischem Wagen, unirdischen Pferden, treibe ich alter Mann mich umher. Mein Pelz hängt hinten am Wagen, ich kann ihn aber nicht erreichen, und keiner aus dem beweglichen Gesindel der Patienten rührt den Finger. Betrogen! Betrogen! Einmal dem Fehlläuten der Nachtglocke gefolgt – es ist niemals gutzumachen.

Sonntag, 29. Oktober 2006

Wolfgang Koeppen : Auf dem Hochsitz


Helmut war mein bester Freund und ich der seine. Wir waren Nachbarskinder in einer kleinen Beamten- und Handelsstadt, ich in einer gemieteten Wohnung, er in einem alten Patrizierhaus. Mit sechs Jahren kamen wir auf die Grundschule, zwei Jahre später auf das Gymnasium. Es war eine humanistische Anstalt, die erste Fremdsprache war Latein. Ich spitzte mich auf anregende Lesefreuden aus alten Büchern. Helmut war anderer Meinung. Ihm hätte die Realschule besser gefallen, mehr Leben, Gegenwart und Wahrheit. Wir waren unzertrennlich, begingen schöne Streiche, doch in den höheren Klassen änderte sich das. In der Tertia wollte Helmut mit mir in einen Verein gehen. Ich mochte schon damals Vereine nicht. Helmut schalt mich einen Bücherwurm. Das beleidigte mich nicht. Wir lachten noch gern über uns und andere. Aber wir fanden kaum noch Zeit füreinander.

Die Räume des alten, ererbten Patrizierhauses waren gewaltig. Ich fand sie prächtig. An den hohen Wänden hingen Jagdtrophäen, abgeschlagene Köpfe von erbeuteten Tieren. Die scharfen Geweihe der Hirsche stachen in die Dämmerung des von Verfall bedrohten Gebäudes. Die erschossenen Rehe und Hirsche waren der Stolz von Helmuts Vater. Ihm gehörte ein Teil unseres Stadtwaldes. Manchmal ließ mich der große Saal an einen Friedhof denken.

Mein Vater wurde nach Berlin gerufen. Wir verließen die kleine Stadt. Ich studierte in Berlin Literatur und Theaterwissenschaft, wurde Dramaturg und Regieassistent, sah das Neueste auf den Bühnen in Paris, London, New York, schnupperte erfolglos in den Ateliers von Hollywood, flog zurück in die deutsche Hauptstadt und war bald ein freier Theater- und Filmregisseur. Ein eigener Filmplan ließ mich an die kleine Stadt meiner Jugend denken. Vielleicht war dort ein Lustspiel zu drehen? Ich fuhr hin, mich umzusehen. Ich kam am Abend etwas müde in das Hotel gegenüber dem Bahnhof. Es gehörte einer Brauerei. Mit Wein war nicht viel los. Ich bestellte im Speisesaal ein kleines Bier. Das Essen war gut.

Fast alle Tische waren besetzt. Solide Bürger. Ich glaubte, sie zu erkennen. Alle tranken Bier. Ein großer, breitschultriger Herr fiel mir auf. Er hatte einen feinen Anzug an, leicht sportlich geschneidert. Auf seiner Wange glänzte eine deutlich sichtbare Narbe. Es war Helmut. Ich stand auf, ging zu seinem Tisch und begrüßte ihn. Er war überrascht. Wir freuten uns beide.

Wir blieben am Tisch stehen, prüften einander, ob wir es wohl seien. Wir waren uns fremd geworden. Keiner wußte ein Gespräch anzufangen. Hastige Fragen kamen von Helmut. Was tust du? Was machst du hier? - Ich will mich umsehen. - Willst du bleiben? – Nein.

Er dachte einen Augenblick nach. Man kann hier nicht reden. Komm' zu mir! Das Haus ist noch das alte, das du ja kennst. Mein Vater ist gestorben. Aber es gibt noch seinen Wein im Keller. Ich glaube, du trinkst Wein?

Wirklich, das Haus und seine Räume waren unverändert, gewaltig und prächtig, doch im Saal roch es nur stärker nach Verfall. Vielleicht kam der Geruch von den modernden Geweihen, die noch immer an den Wänden hingen. Ich erinnerte mich, als Kind den Raum einen Friedhof genannt zu haben. Helmut brachte den Wein. Es war ein guter badischer Rotwein. Wir tranken einander zu.

Was machst du eigentlich, was willst du hier, ich weiß nichts von dir, fragte Helmut. Ich erzählte Theater- und Filmgeschichten. Anekdoten. Sie sollten dem alten Freund etwas von meinem Leben sagen. Ich erwähnte einen Schauspieler, den ich genial nannte. Er hatte in einer meiner Inszenierungen gespielt.

Helmut war interessiert. Wenn dein genialer Schauspieler schon so berühmt ist, hat er in deinem Milieu sicher sehr viele Frauen. – Nein, ich glaube nicht, es ist mir nicht aufgefallen.

Plötzlich verzog Helmut sein Gesicht. Der Schmiß auf seiner Wange rötete sich. Er sprang auf und schrie, aha, ein Arschficker! Ich wich unwillkürlich zurück, was sollte ich sagen, ich war verstört und rief, bist du verrückt, mir ist dein Ausdruck nicht geläufig, er ist gemein und nicht wahr. – Na gut, beruhige dich, ich entschuldige mich. Ich schenke uns was ein.

Gegen meinen Willen blieb ich am Tisch. Ich versuchte abzulenken. Nun erzähle, was bist du geworden? Ich weiß auch nichts von dir.

Auch er setzte sich wieder. In seiner Stimme war Hochmut. Ich bin Ankläger, Staatsanwalt, hier in meiner Heimat. - Du bist nicht weit herumgekommen. – Nein, Jura in Göttingen. – Und in einer schlagenden Verbindung? Mein Ton war spöttisch. Er ging ins Zeug. Ich diene gerne dem Staat. Er lachte. Ich bin ein zäher Kämpfer, ein scharfer Hund! Ich hasse die lauwarme, die rückgratlosen Sprüche. ›Im Zweifel für den Angeklagten.‹ Im Gegenteil, im Zweifel gegen ihn. Ich schädige die Gesellschaft, das soziale Gefüge, wenn ich einen Beschuldigten im Zweifel laufen lasse. Und wenn ich einen Unschuldigen ins Gefängnis bringe, festige ich die Angst aller guten Bürger vor der Strenge des Gesetzes.

Das ist absurd. Ich glaube, du bist krank.

Er stand auf und ging zu einem Lichtschalter und knipste eine Reihe von Wandleuchten an. Sie gaben ein grelles Licht. Die alten Hirschköpfe waren nun wieder deutlich im Raum. Er wies mit dem Arm darauf hin: Sie alle hat mein Vater geschossen. Nur zwei sind von mir erlegt. Ich habe das grelle Licht installieren lassen, damit ich sie jeden Abend sehen kann. Er wirkte theatralisch. Mit ausgestrecktem Arm im Rampenlicht.

Ich dachte, du baust dir deine Bühne selbst. Ich lobte mir mein Theater, die alte moralische Anstalt.

Ich fand die Situation komisch. Er war verstimmt, weil mein Beifall ausblieb. Er hielt mich für den alten Bücherwurm, der ich schon auf der Schule gewesen war. Jetzt bist du vernarrt in deine moralische Anstalt und nimmst sie für die Wirklichkeit, die du versäumst.

Er ging zum Lichtschalter und löschte die Lampen über den Hirschköpfen.

Eine Weile saßen wir stumm da. Dann kam Helmut der glückliche Einfall: Komm’ morgen mit mir auf die Jagd! In unseren Wald, wo wir gespielt haben. Ich bin dort hinter einem Hirsch her: einem prächtigen Tier. Er hob wieder den Arm und deutete nun auf die dunkle Wand der toten Hirschköpfe. Der Ausflug wird dir bekommen, du wirst ein Stück Wahrheit sehen, wie alles zusammenpaßt, Mensch und Tier.

Mich grauste. Seine Wahrheit war mir ein Horrorfilm. Vielleicht konnte ich sie in meinen Film aufnehmen. Ich sagte zu und reichte ihm die Hand. Er war beruhigt. Ich hole dich morgen ab; ich freue mich.

Es stand ein großes Auto vor meinem Hotel. Es erinnerte mich an den Krieg, ein Jeep, aber ganz neu, gebürstet und geputzt. Er paßte nicht in den Wald der Kindheit. Aber der Wald, als ich ihn nun wiedersah, blieb vertraut und schön. Für eine Weile gefiel mir die Fahrt, ich geriet ins Träumen, Helmut und ich waren wieder die zwei Knaben, Freunde, zu einem Streich bereit. Wir hielten unter starken Bäumen. Es waren nur ein paar Schritte zum Hochsitz auf der Lichtung. Von einem der Bäume baumelte eine Strickleiter herab. Helmut kletterte gewandt hinauf. Ich folgte. Es ging ganz gut.

Oben war ein Ast des Baumes mit Brettern verstärkt. Eine Bank war angebracht. Wir setzten uns und konnten durch Zweige und Laub auf die Lichtung blicken. Helmut zog ein Futteral von seiner Flinte. Sie war schön, sie wirkte ästhetisch. Er streichelte den Lauf. Er fühlte sich zu Hause. Aus der Brusttasche seiner Jagdjoppe zog er einen Flachmann, eine nicht kleine Flasche, ein Jägerschnaps, den alten Klaren. Er reichte mir die Flasche und ich trank einen großen Schluck. Ich wunderte mich, daß dieses scharfe Gesöff mir schmeckte, und trank noch einen zweiten Schluck. Dann trank Helmut und prostete mir vergnügt zu. Die Stimmung im Hochsitz war gemütlich.

Bald aber hob Helmut die Flinte und zielte durch das Laubfenster gegen die Lichtung. Seine Augen linsten scharf und glänzten. Er war erregt. Es erschien ein Reh auf der Lichtung. Das Reh hatte ein fast weißes Fell. Es war jung, munter, ja kindlich und tänzelte auf der grünen Wiese herum. Das ist Irmi, flüstere Helmut mir zu. Ich rief, du wirst doch nicht! Er lachte, Irmi ist meine Waldstricherin, der Hirsch ist in sie verliebt. Gleich wird der kommen.

Mir stockte der Atem. Der Hirsch, der Liebhaber, betrat die Bühne. Ein majestätischer Anblick, die köngliche Haltung, das Geweih wie eine Krone. Helmut hatte Maß genommen. Er hielt den Hirsch im Visier, er sah den Kopf des Hirsches an seiner Zimmerwand. Er war in einer Spannung, die über ihn hinausging und mich peitschte.

Ich sprang auf, griff nach dem Lauf der Flinte, suchte sie an mich zu reißen, Helmut packte den Kolben fester, wir rangen um die Waffe, gedankenlos, entbrannt, ein Wirrwarr, ein Schuß. Helmut fiel gegen mich.

Ein Jagdunfall? Ein Frevel? Den Tod gebilligt? Im Zweifel für den Angeklagten.