Sonntag, 29. Oktober 2006

Wolfgang Koeppen : Auf dem Hochsitz


Helmut war mein bester Freund und ich der seine. Wir waren Nachbarskinder in einer kleinen Beamten- und Handelsstadt, ich in einer gemieteten Wohnung, er in einem alten Patrizierhaus. Mit sechs Jahren kamen wir auf die Grundschule, zwei Jahre später auf das Gymnasium. Es war eine humanistische Anstalt, die erste Fremdsprache war Latein. Ich spitzte mich auf anregende Lesefreuden aus alten Büchern. Helmut war anderer Meinung. Ihm hätte die Realschule besser gefallen, mehr Leben, Gegenwart und Wahrheit. Wir waren unzertrennlich, begingen schöne Streiche, doch in den höheren Klassen änderte sich das. In der Tertia wollte Helmut mit mir in einen Verein gehen. Ich mochte schon damals Vereine nicht. Helmut schalt mich einen Bücherwurm. Das beleidigte mich nicht. Wir lachten noch gern über uns und andere. Aber wir fanden kaum noch Zeit füreinander.

Die Räume des alten, ererbten Patrizierhauses waren gewaltig. Ich fand sie prächtig. An den hohen Wänden hingen Jagdtrophäen, abgeschlagene Köpfe von erbeuteten Tieren. Die scharfen Geweihe der Hirsche stachen in die Dämmerung des von Verfall bedrohten Gebäudes. Die erschossenen Rehe und Hirsche waren der Stolz von Helmuts Vater. Ihm gehörte ein Teil unseres Stadtwaldes. Manchmal ließ mich der große Saal an einen Friedhof denken.

Mein Vater wurde nach Berlin gerufen. Wir verließen die kleine Stadt. Ich studierte in Berlin Literatur und Theaterwissenschaft, wurde Dramaturg und Regieassistent, sah das Neueste auf den Bühnen in Paris, London, New York, schnupperte erfolglos in den Ateliers von Hollywood, flog zurück in die deutsche Hauptstadt und war bald ein freier Theater- und Filmregisseur. Ein eigener Filmplan ließ mich an die kleine Stadt meiner Jugend denken. Vielleicht war dort ein Lustspiel zu drehen? Ich fuhr hin, mich umzusehen. Ich kam am Abend etwas müde in das Hotel gegenüber dem Bahnhof. Es gehörte einer Brauerei. Mit Wein war nicht viel los. Ich bestellte im Speisesaal ein kleines Bier. Das Essen war gut.

Fast alle Tische waren besetzt. Solide Bürger. Ich glaubte, sie zu erkennen. Alle tranken Bier. Ein großer, breitschultriger Herr fiel mir auf. Er hatte einen feinen Anzug an, leicht sportlich geschneidert. Auf seiner Wange glänzte eine deutlich sichtbare Narbe. Es war Helmut. Ich stand auf, ging zu seinem Tisch und begrüßte ihn. Er war überrascht. Wir freuten uns beide.

Wir blieben am Tisch stehen, prüften einander, ob wir es wohl seien. Wir waren uns fremd geworden. Keiner wußte ein Gespräch anzufangen. Hastige Fragen kamen von Helmut. Was tust du? Was machst du hier? - Ich will mich umsehen. - Willst du bleiben? – Nein.

Er dachte einen Augenblick nach. Man kann hier nicht reden. Komm' zu mir! Das Haus ist noch das alte, das du ja kennst. Mein Vater ist gestorben. Aber es gibt noch seinen Wein im Keller. Ich glaube, du trinkst Wein?

Wirklich, das Haus und seine Räume waren unverändert, gewaltig und prächtig, doch im Saal roch es nur stärker nach Verfall. Vielleicht kam der Geruch von den modernden Geweihen, die noch immer an den Wänden hingen. Ich erinnerte mich, als Kind den Raum einen Friedhof genannt zu haben. Helmut brachte den Wein. Es war ein guter badischer Rotwein. Wir tranken einander zu.

Was machst du eigentlich, was willst du hier, ich weiß nichts von dir, fragte Helmut. Ich erzählte Theater- und Filmgeschichten. Anekdoten. Sie sollten dem alten Freund etwas von meinem Leben sagen. Ich erwähnte einen Schauspieler, den ich genial nannte. Er hatte in einer meiner Inszenierungen gespielt.

Helmut war interessiert. Wenn dein genialer Schauspieler schon so berühmt ist, hat er in deinem Milieu sicher sehr viele Frauen. – Nein, ich glaube nicht, es ist mir nicht aufgefallen.

Plötzlich verzog Helmut sein Gesicht. Der Schmiß auf seiner Wange rötete sich. Er sprang auf und schrie, aha, ein Arschficker! Ich wich unwillkürlich zurück, was sollte ich sagen, ich war verstört und rief, bist du verrückt, mir ist dein Ausdruck nicht geläufig, er ist gemein und nicht wahr. – Na gut, beruhige dich, ich entschuldige mich. Ich schenke uns was ein.

Gegen meinen Willen blieb ich am Tisch. Ich versuchte abzulenken. Nun erzähle, was bist du geworden? Ich weiß auch nichts von dir.

Auch er setzte sich wieder. In seiner Stimme war Hochmut. Ich bin Ankläger, Staatsanwalt, hier in meiner Heimat. - Du bist nicht weit herumgekommen. – Nein, Jura in Göttingen. – Und in einer schlagenden Verbindung? Mein Ton war spöttisch. Er ging ins Zeug. Ich diene gerne dem Staat. Er lachte. Ich bin ein zäher Kämpfer, ein scharfer Hund! Ich hasse die lauwarme, die rückgratlosen Sprüche. ›Im Zweifel für den Angeklagten.‹ Im Gegenteil, im Zweifel gegen ihn. Ich schädige die Gesellschaft, das soziale Gefüge, wenn ich einen Beschuldigten im Zweifel laufen lasse. Und wenn ich einen Unschuldigen ins Gefängnis bringe, festige ich die Angst aller guten Bürger vor der Strenge des Gesetzes.

Das ist absurd. Ich glaube, du bist krank.

Er stand auf und ging zu einem Lichtschalter und knipste eine Reihe von Wandleuchten an. Sie gaben ein grelles Licht. Die alten Hirschköpfe waren nun wieder deutlich im Raum. Er wies mit dem Arm darauf hin: Sie alle hat mein Vater geschossen. Nur zwei sind von mir erlegt. Ich habe das grelle Licht installieren lassen, damit ich sie jeden Abend sehen kann. Er wirkte theatralisch. Mit ausgestrecktem Arm im Rampenlicht.

Ich dachte, du baust dir deine Bühne selbst. Ich lobte mir mein Theater, die alte moralische Anstalt.

Ich fand die Situation komisch. Er war verstimmt, weil mein Beifall ausblieb. Er hielt mich für den alten Bücherwurm, der ich schon auf der Schule gewesen war. Jetzt bist du vernarrt in deine moralische Anstalt und nimmst sie für die Wirklichkeit, die du versäumst.

Er ging zum Lichtschalter und löschte die Lampen über den Hirschköpfen.

Eine Weile saßen wir stumm da. Dann kam Helmut der glückliche Einfall: Komm’ morgen mit mir auf die Jagd! In unseren Wald, wo wir gespielt haben. Ich bin dort hinter einem Hirsch her: einem prächtigen Tier. Er hob wieder den Arm und deutete nun auf die dunkle Wand der toten Hirschköpfe. Der Ausflug wird dir bekommen, du wirst ein Stück Wahrheit sehen, wie alles zusammenpaßt, Mensch und Tier.

Mich grauste. Seine Wahrheit war mir ein Horrorfilm. Vielleicht konnte ich sie in meinen Film aufnehmen. Ich sagte zu und reichte ihm die Hand. Er war beruhigt. Ich hole dich morgen ab; ich freue mich.

Es stand ein großes Auto vor meinem Hotel. Es erinnerte mich an den Krieg, ein Jeep, aber ganz neu, gebürstet und geputzt. Er paßte nicht in den Wald der Kindheit. Aber der Wald, als ich ihn nun wiedersah, blieb vertraut und schön. Für eine Weile gefiel mir die Fahrt, ich geriet ins Träumen, Helmut und ich waren wieder die zwei Knaben, Freunde, zu einem Streich bereit. Wir hielten unter starken Bäumen. Es waren nur ein paar Schritte zum Hochsitz auf der Lichtung. Von einem der Bäume baumelte eine Strickleiter herab. Helmut kletterte gewandt hinauf. Ich folgte. Es ging ganz gut.

Oben war ein Ast des Baumes mit Brettern verstärkt. Eine Bank war angebracht. Wir setzten uns und konnten durch Zweige und Laub auf die Lichtung blicken. Helmut zog ein Futteral von seiner Flinte. Sie war schön, sie wirkte ästhetisch. Er streichelte den Lauf. Er fühlte sich zu Hause. Aus der Brusttasche seiner Jagdjoppe zog er einen Flachmann, eine nicht kleine Flasche, ein Jägerschnaps, den alten Klaren. Er reichte mir die Flasche und ich trank einen großen Schluck. Ich wunderte mich, daß dieses scharfe Gesöff mir schmeckte, und trank noch einen zweiten Schluck. Dann trank Helmut und prostete mir vergnügt zu. Die Stimmung im Hochsitz war gemütlich.

Bald aber hob Helmut die Flinte und zielte durch das Laubfenster gegen die Lichtung. Seine Augen linsten scharf und glänzten. Er war erregt. Es erschien ein Reh auf der Lichtung. Das Reh hatte ein fast weißes Fell. Es war jung, munter, ja kindlich und tänzelte auf der grünen Wiese herum. Das ist Irmi, flüstere Helmut mir zu. Ich rief, du wirst doch nicht! Er lachte, Irmi ist meine Waldstricherin, der Hirsch ist in sie verliebt. Gleich wird der kommen.

Mir stockte der Atem. Der Hirsch, der Liebhaber, betrat die Bühne. Ein majestätischer Anblick, die köngliche Haltung, das Geweih wie eine Krone. Helmut hatte Maß genommen. Er hielt den Hirsch im Visier, er sah den Kopf des Hirsches an seiner Zimmerwand. Er war in einer Spannung, die über ihn hinausging und mich peitschte.

Ich sprang auf, griff nach dem Lauf der Flinte, suchte sie an mich zu reißen, Helmut packte den Kolben fester, wir rangen um die Waffe, gedankenlos, entbrannt, ein Wirrwarr, ein Schuß. Helmut fiel gegen mich.

Ein Jagdunfall? Ein Frevel? Den Tod gebilligt? Im Zweifel für den Angeklagten.



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